Die Ikonen der Schenkung Gürtler

Die Ikone - das griechische Wort Eikon (εἰκών) bedeutet Bild, Abbild, Ebenbild - besitzt in der orthodoxen Kirche eine zentrale Bedeutung. Auf Wunderlegenden beruhend fungiert sie als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits. Nach dem Zerfall des byzantinischen Reichs fand sie besonders in Russland, aber auch in Griechenland und auf dem Balkan ein vielfältiges Weiterleben. Die Darstellungsweise, die durch die geografische und politische Distanz von westlichen Einflüssen abgeschirmt war, präsentiert eine in sich geschlossene Bilderwelt mit einer besonders starken bildhaften, narrativen Ausprägung. Eine ausserordentliche Schenkung stattete das Kunstmuseum St.Gallen im Jahr 2013 mit einer umfangreichen, erstrangigen Sammlung in diesem Bereich aus: Dr. med. René und Lotti Gürtler vermachten über 150 Holz- und Metallikonen aus dem 16. bis 19. Jahrhundert sowie rund vierzig Kleinantiquitäten, eine kostbare slawische Handschrift und mitteleuropäische Heiligenskulpturen, dem St.Galler Museum, um sie in ihrer Gesamtheit zu erhalten.

Zahlreiche Wunder werden durch Ikonen bezeugt. Sie werden aber auch, so die Überlieferung, durch die abgebildeten Heiligen selbst hervorgebracht und begründen die Entstehung der allerheiligsten, nicht von Menschenhand geschaffenen Bildtafeln.

Unter diesen Bildern wunderbaren Ursprungs zählt zuvorderst das Mandylion, ein Tuchbild, das durch den Abdruck des Antlitzes Christi entstanden sein soll. Damit gilt es als „Acheiropoietos“, als nicht von Menschenhand geschaffen. Zahlreiche Legenden erklären seine Herkunft, so jene des Mandylions von Edessa: Christus habe das Tuch mit dem Abdruck seiner Züge dem König Abgar von Edessa gesandt, der erkrankt war, um ihn zu heilen und der durch dieses gesund wurde. Dem Tuch wurde damit dieselbe Heilkraft wie der körperlichen Anwesenheit des Gottessohns zugesprochen.

Der Bildtypus, der seit dem 6. Jahrhundert nachweisbar ist, gibt das Gesicht Christi meist ohne Halsansatz wieder: Isoliert aus dem körperlichen Kontext und damit der Entstehungslegende entsprechend. Christus wird auf der Ikone aus der Sammlung Gürtler in mittlerem Alter mit mittelgescheiteltem, in drei Spitzen geordnetem, etwa schulterlangem braunem Haar und langem Vollbart gezeigt. Dahinter wird ein ausgebreitetes Tuch von Engeln gehalten wird.

Bereits früh betrachtete die christliche Theologie die Bilderfrage, die durch die antik-heidnische Kultur geprägt war, für ihre eigene Entwicklung als wesentlich. Einen Bilder- oder einen Ikonenkult (eikon bedeutet „Bild, Abbild“) galt es daher theologisch zu begründen. Während das Alte Testament es verbiet, sich ein Abbild Gottes zu machen, wurde Gott im Neuen Testament in der Gestalt seines Sohnes Jesus Christus sichtbar. Für die Legitimierung der Ikonenverehrung gilt das Mandylion als grundlegend. In der Frage, ob der menschgewordene Sohn Gottes abbildbar sei, stellt es sozusagen die göttliche Bestätigung dar: Als wahres Porträt Christi, als Ur-Bild, konnten sich Theologen darauf berufen und Ikonenmaler sich danach richten. So gilt es als die erste Ikone überhaupt, seither werden alle Kopien diesen göttlichen Urbilds Ikonen genannt.

Die Ikone Christus Pantokrator zeigt den Gottessohn in frontaler Halbfigur als Weltenherrscher. Im Vergleich zu älteren Darstellungsformen wird er in betonter Männlichkeit wiedergegeben: mit strengem Blick, mit Bart und gepflegter schulterlanger, mittig gescheitelter Haartracht. Es handelt sich um eine Bildform, die im 4. Jahrhundert begründet wurde und radikal mit den bis dahin üblichen symbolischen Christus-Darstellungen, beispielsweise als Lamm, brach.

Bereits auf dem Ersten Konzil von Nikaia im Jahr 325 war bekräftigt worden, dass Christus das sichtbare Bild des Vaters ist. Daraufhin begann ein über Jahrhunderte hinweg dauernder Diskurs über die göttliche Natur Christi und die Frage seiner Darstellbarkeit. Auf dem Konzil von Chalkedon im Jahr 451 wurde als Dogma festgelegt: In der Person Christi seien die menschliche und göttliche Natur vereint – er sei „wahrer Gott und wahrer Mensch“. Auf dem Zweiten Konzil von Nikaia im Jahr 787 wurde seine Darstellbarkeit aufgrund seiner Fleischwerdung gebilligt, sofern die Verehrung nicht dem Bild selbst zuteilwürde, sondern auf das Urbild überginge. Theodorus von Studios (759–826) erklärte in diesem Zusammenhang: „Als vollkommener Mensch kann Christus nicht nur, er muss sogar in Bildern verehrt werden.“ Der Typus des Christus Pantokrator gilt damit als Symbol des Streitpunkts, der erst 843 mit dem endgültigen Triumph der Bilderverehrung enden sollte.

Der grosse Nimbus nimmt in den Darstellungen das Christusmonogramm auf: „Ho Ōn“ – Der Seiende (Jesus Christus der Allherrscher). Die rechte Hand ist zu einem Segensgestus erhoben, in der linken trägt der Sohn Gottes einen reich geschmückten Codex. Der die Göttlichkeit repräsentierende Goldgrund wird von einem ebenfalls vergoldeten Schnitzwerk umrandet.

Im 16. Jahrhundert kommen in Russland allegorische Motive auf. Diese haben ihren Ursprung um 1300 in Serbien, bestimmen indes vor allem zwei Jahrhunderte später in Russland einen neuen Typus der Ikonentradition: die symbolisch-didaktischen Ikonen. Sie basieren auf der liturgischen Hymnographie, der sie in der Regel sehr präzise folgen und deren Texte sie in Aufschriften teilweise zitieren. Zu diesen Ikonen zählen die Darstellung des Eingeborenen Sohns, die Ikone Meine Seele preise den Herrn, das Nichtschlafende Auge und die Gottesmutter Nichtverbrennender Dornbusch.

Der Bildtypus des Eingeborenen Sohns bezieht sich auf den Hymnus der Göttlichen Liturgie von Kaiser Justinian (527–565), der in der Liturgie der orthodoxen Kirche gesungen wird, undsymbolisiert den Triumph Christi über den Tod. 

Die Gottesmutter erfährt nach der Christusfigur, dem Urbild aller Ikonen, die grösste Verehrung. Diese setzte im 5. Jahrhundert ein, nachdem ihr in Verhandlungen zum Konzil von Ephesos 431 der Titel Theotokos (die „Gottgebärende“) verliehen worden war. Den Bildtypen der Gottesmutter liegt die Hodegetria, die „Wegführerin“, zu Grunde. Diese gilt als das erhabenste Bildnis der Gottesmutter. Deren Urbild stammte aus einem im 9. Jahrhundert gestifteten gleichnamigen Kloster in Konstantinopel, das sich der Pflege von Blinden verschrieben hatte.

Nach dem Bilderstreit in der Ostkirche, bei dem sich die Ikonenverehrer 843 durchgesetzt hatten, fand der Typus der Hodegetria in der Monumental- wie der Ikonenmalerei weite Verbreitung. Unzählige Abbilder entstanden und wurden weit verbreitet: beispielsweise die Gottesmutter von Kasan, die Gottesmutter von Smolensk oder die Gottesmutter von Tichwin. Sie alle vereinen die wesentlichen Merkmale der Hodegetria: Brustbild mit respektvollem Abstand von Gottesmutter und Kind zum Betrachter, strenge Frontalität der Dargestellten, Christuskind in sitzender Position auf dem linken Arm der Gottesmutter, die Rechte zum Segensgestus erhoben und in der Linken eine geschlossene Schriftrolle haltend, während die Gottesmutter mit ihrer Rechten andächtig auf das Kind weist. Wie die Hodegetria die Stadt Konstantinopel mehrmals vor feindlichen Angriffen geschützt hat, sind auch ihre Abbilder mit Wunderlegenden verknüpft.

Die Gottesmutter Glykophilousa, die „zärtlich Liebende“, hält das Kind in beiden Händen. Dieses blickt zu ihr und berührt sie am Hals oder schmiegt sich an die Wange an. Während das Christuskind in diesem Bildtypus zuweilen spielend dargestellt wird, wahrt die Gottesmutter, um das Schicksal ihres Sohns wissend, den ernsten Gesichtsausdruck. Die zärtliche Darstellung erfreute sich in vielen Ländern grosser Beliebtheit.

Die Gottesmutter Glykophilousa aus der Sammlung Gürtler weist einen kostbaren Hintergrund aus Blattgold auf, die Nimben sind mit einem Rosettenmuster punziert, und der Mantel des Christuskinds ist mit Chrysographie (Goldmalerei) verziert. Auch das dunkelrote Maphorion der Gottesmutter besticht durch eine goldene Borte und weitere Verzierungen, die Knitterungen wirken schematisch und expressiv. Die abgeriebenen Monogramme bezeichnen die Dargestellten als „Jesous Christos“, Jesus Christus, und „Meter Theou“, die Gottesmutter.

Dieser Typus der Gottesmutter, sowie die Gottesmutter von Wladimir, gehört zur Eleousa-Umilenie-Gruppe. Diese zeichnet sich – im Unterschied zur Hodegetria-Gruppe – durch die innig-vertraute Beziehung zwischen Gottesmutter und Christuskind aus und verzichtet hierfür auf die strenge Frontalität. Gemeinsam ist sowohl der Hodegetria als auch der Ur-Glykophilousa die Legende ihrer göttlichen Entstehung: Beide sollen vom Hl. Lukas, dem Schutzpatron der Maler, gemalt worden sein.

Die Ikonostase, eine hohe Bilderwand in der Kirche, teilt als liturgischer Baukörper den Altarraum vom Kirchenschiff. Entwickelt hat sie sich aus dem frühchristlichen Templon, einem Raumteiler aus einer Marmorbalustrade, Säulen und einem Architrav. In der Mitte ermöglichte eine Tür dem Klerus Zutritt zum Allerheiligsten. Die Ikonostase im orthodoxen Gotteshaus fasst die Theologie der Ostkirche sozusagen als „Summe“ bildhaft zusammen. In mehreren Rängen werden Ikonen nach einem festgelegten Schema angeordnet.

Diese Bilderwand wurde zur privaten Andacht auf Hausikonen und, für den Beistand unterwegs, auf falt- und tragbaren Ikonen miniaturhaft nachgebildet. Hierfür fasste man eine Vielzahl von Einzelikonen in Feinmalerei zusammen: eine Herausforderung für die Künstler und zugleich eine Möglichkeit, ihr malerisches Können unter Beweis zu stellen. 

Der Hl. Sergius von Radonesch (13141392) ist einer der populärsten Heiligen in Russland. Vergleichbar mit Franz von Assisi in der Westkirche predigte der Einsiedler Demut, Busse und Nächstenliebe.

Aufgrund einer Vision gründete er das Dreifaltigkeitskloster in Sergijew Possad. Um 1411 schuf der Mönch Andrei Rubljow (um 13601430) unter Berufung auf den einige Jahre zuvor verstorbenen Heiligen die berühmte Ikoneder Hl. Dreifaltigkeit. Dieses Meisterwerk, das heute in der Moskauer Tretjakow-Galerie aufbewahrt wird, erklärte die Ostkirche 1551 zum Vorbild für die Darstellung der Trinität. Die alttestamentliche Dreifaltigkeit nach dem Vorbild Rubljows mit den drei einander zugeneigten Engeln am Altar, die einen die Eucharistie symbolisierenden Kelch berühren, erscheint auf der Ikone aus der Sammlung Gürtler in der oberen linken Ecke als Vision des Sergius von Radonesch. 

Die Ikone der Heiligen Zosima und Savvatij ist ein wahres Meisterwerk. Detailreich zeigt sie das Kloster auf der Inselgruppe Solovki, das der Hl. Zosima (gest. 1478) gründete. Bereits der Hl. Savvatij (gest. 1435) hatte einige Jahrzehnte zuvor die Gründung eines Klosters auf der Insel initiiert. Dieses hatte indes keinen Bestand.

Im Vordergrund der Ikone ist das Meer mit Pilgerbooten angedeutet, links und rechts steuern Zosima und Savvatij in Booten gegen die Bildmitte. Die Insel nimmt den gesamten oberen Bildteil ein und ist mit zahlreichen pastellfarbenen Gebäuden eng bebaut. Diese vermitteln in ihrer vertikalen Anordnung den Eindruck einer von einer Mauer mit goldenem Eingangstor umgebenen Stadt. Kuppeln, Kreuze und Türme zeichnen die Architektur als Sakralbauten aus. Im Bildzentrum sind die beiden Heiligen als Alte, bärtig und mit glattem Haar, dargestellt. Sie erscheinen ganzfigurig in einer Öffnung der Hauptkirche, ihre Arme erheben sie fürbittend gegen den Himmel. In simultaner Darstellung sind sie gleich daneben in ihren Gräbern beigesetzt zu erkennen. Darüber beugen sich Pilger. Im übrigen Klosterkomplex schildert der Maler Szenen aus dem klösterlichen Alltagsleben, wie beispielsweise unten links die Begrüssung bzw. das Geleit von Pilgergruppen.

Die 1547 in Moskau kanonisierten Heiligen Zosima und Savvatij werden aufgrund des gemeinsamen Festtags zusammen dargestellt, obwohl sie nicht zur selben Zeit auf Solovki lebten. Das Zeitverhältnis ist so zugunsten der Schau auf ihrer beider Leistungen aufgebrochen. Mit dieser malerisch detaillierten und motivisch ausserordentlich differenzierten Darstellungsform vergleichbar sind die sogenannten Vitaikonen, die verschiedene Szenen aus dem Leben eines Heiligen in einer Art Zusammenschau auf einer Bildtafel wiedergeben. Mit der detailreichen Gestaltung von nach vorne offenen Gebäuden und der vertikalen Anordnung der stattlichen Küstenstadt  entwickelte der Maler dieser russischen Zosima und Savvatij-Ikone eine differenzierte, meisterhafte Bildsprache.

Auch zahlreiche Objekte aus liturgischem Zusammenhang, teilweise sogar byzantinischen Alters sind Teil der Schenkung Gürtler. Darunter befinden sich auch Anhänger, Hand- und Vortragekreuze aus Äthiopien.

Das früheste Auftreten des Kreuzes als christlichen Symbols in Äthiopien konnte auf Münzen des Herrschers König Ezana im 4. Jahrhundert nachgewiesen werden. Als Sieges-, Segens- und Verkündigungszeichen ist es ein zentrales Glaubenssymbol. Hinsichtlich seines Verwendungszwecks lässt es sich in drei Gruppen unterteilen: Anhängerkreuze, die um den Hals getragen wurden, Handkreuze sowie Vortragekreuze, die man auch als Prozessionskreuze bezeichnet. Letztere, seit dem 12. Jahrhundert hergestellt, weisen die grössten Dimensionen auf und erfuhren die aufwendigste Gestaltung. Ein hohler Schaft ermöglichte es, das Kreuz auf einen Holzstab aufzustecken und so zu verlängern, dass es die Würdenträger während der Zeremonie über den Köpfen der Gläubigen halten konnten. Kupfer, Bronze und Eisen wurden als Material bevorzugt, und später, im 16. Jahrhundert, kam Messing hinzu.

Die beiden Exemplare aus der Sammlung Gürtler weisen eine gebräuchliche Form früher Kupferkreuze auf, die eindeutig der Provinz Lasta zugeordnet und als Lalibela-Kreuz bestimmt werden kann. Ihr Herkunftsort, die heilige Stadt Lalibela, wird auch Neu-Jerusalem genannt. Sie gilt mit ihren bis zu 800 m² grossen in den Felsen gehauenen Kirchen als bedeutender Wallfahrtsort der Ostkirche und zählt heute zum Weltkulturerbe der UNESCO.

Die Handschrift aus der russischen Liturgie vereint acht Texte, die sich hauptsächlich auf das Jüngste Gericht und die Leidensgeschichte Christi beziehen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war es vor allem unter den Altgläubigen üblich – diese durften im Russischen Reich keine eigenen Druckereien betreiben –, theologische Texte handschriftlich zu verbreiten und für die Messe in einem Band zu sammeln.

Die ersten beiden Texte gehören der Eschatologie an (altgriech. „és-chata“, die äussersten/letzten Dinge, und „lógos“, Lehre). Sie beschreiben die prophetische Lehre von der Vollendung des Einzelnen wie der ganzen Schöpfung, also den Anbruch einer neuen Welt. Darauf folgen vier kurze Schriften, die zum frommen Leben erbauen sollen, bevor mehr als die Hälfte des Sammelbands der Passionsgeschichte gewidmet ist.

 

Aktuelle Ergebnisse zu Ikonen aus der Sammlung Gürtler

Das Kunstmuseum St.Gallen versteht die Sammlung Gürtler als Plattform für die Forschung und den Austausch zum Thema Ikonen, wo Wissen stets erweitert und neue Erkenntnisse gesammelt werden. Auf der Website wird laufend der neueste Stand des Wissens einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Kunstmuseum St.Gallen freut sich auf Hinweise oder Anregungen, die einen weiteren Austausch sowie Erkenntnisgewinn ermöglichen.