Zeitgenössische Positionen

Auf die künstlerischen Errungenschaften der sechziger Jahre folgte eine Ausdifferenzierung inhaltlicher Positionen bis zur Gegenwart: Erforscht wurden nicht nur Materialeigenschaften in der Skulptur, Farbmaterie und -erscheinung in der Malerei, sondern auch die Möglichkeiten Neuer Medien. Unterschiedliche Positionen zeitgenössischer Kunst sind in der St.Galler Sammlung mit exemplarischen Werken vertreten: Roman Signer (*1938), Keith Sonnier (*1941), Karin Sander (*1957) oder Erwin Wurm (*1954) in der Skulptur, Lawrence Weiner (*1942) und On Kawara im Bereich konzeptueller Kunst, Markus Raetz (*1941), Ilona Ruegg (*1949) oder Alex Hanimann (*1955) in der Zeichnung, Imi Knoebel (*1940), Olivier Mosset (*1940) und Jessica Stockholder (*1959) im erweiterten Feld der Malerei oder Nam June Paik (*1932) und Pipilotti Rist (*1962) im Bereich der Videokunst.

Erweiterter Skulpturbegriff

Keith Sonnier (*1941) gilt zusammen mit Bruce Nauman (*1941), Richard Serra (*1939), Bill Bollinger (1939-1988) oder Barry Le Va (*1941) als einer der Pioniere der sogenannten Postminimal Art. Seine frühen Erkundungen unterschiedlicher Werkstoffe wie Filz oder Latex und deren inhärenten Materialeigenschaften führten zu den Neonskulpturen, mit denen er ab 1968 international Anerkennung fand. Diese bestechen vor allem durch den Reiz des farbigen Lichtes, dessen «erotische» Anklänge typisch sind für Sonniers Arbeiten.

«Tutto è connesso» (Alles ist verbunden), lautet der Titel von Mario Merz’ (1925-2003) eindrücklichem Iglu, das der Meister der italienischen Arte Povera im Foyer des Kunstmuseums realisierte. Der Künstler blendet zurück in die Ursprünge der Menschheit, indem er sich auf die archaische Form eines Iglus, bezieht. Im Bestreben die Urgeschichte mit der Gegenwart zu verbinden, bedient er sich neuartiger Werkstoffe, vor allem des Neon-Lichts. Die zwischen den Steinplatten aufleuchtende Zahlenreihe – 1 (+) 1 (=) 2 (1+2=) 3 (2+3) 5 (3+5) 8 usw. – gründet auf dem italienischen Mathematiker Fibonacci und deutet eine Bewegung an, die sich von einem anfänglichen langsamen Fortschreiten bis zum rasanten Tempo der Gegenwart beschleunigt. Zudem kontrastiert der Künstler, der mit einer erstrangigen Werkgruppe in der Sammlung vertreten ist, den historischen Prunk der Museumsarchitektur mit einer «armen» Materialität, die in ihrer schlichten Präsenz und Archaik grundlegende gesellschaftliche wie existentielle Fragen thematisiert.

Ebenfalls wesentlich von der prozesshaft angelegten Kunst der späten sechziger Jahre beeinflusst ist das Schaffen des Ostschweizer Künstlers Roman Signer. Der Bildhauer erweitert die klassische Skulptur durch die Dimension der Zeit bzw. das Sichtbarmachen von Prozessen. Sein Œuvre ist im Kunstmuseum St.Gallen gültig dokumentiert, angefangen von den frühen Arbeiten wie dem nur in Form von Skizzen oder Modellphotos vorhandenen «Warschauer Projekt» (1971) bis zur berühmten «Aktion mit einer Zündschnur» (1989), die als raumgreifendes Objekt die Sammlung bereichert. Vom 11. September bis zum 15. Oktober 1989 liess der Künstler über zwanzig Kilometer entlang der Bahngeleise eine Zündschnur von seinem Geburtsort Appenzell bis zu  seinem aktuellen Wohnort St.Gallen abbrennen. Nicht nur Raum und Zeit wurden dabei durchmessen, das Werk lässt sich auch als ein Weg-Gehen im konkreten wie metaphorischen Sinne verstehen – eingebettet in eine Landschaft, die sich dem Betrachter im Werk nur mehr gedanklich erschliesst. Konsequent seinem künstlerischen Ansatz folgend, entstehen so teils vergängliche Arbeiten, die üblicherweise nur in Videos bzw. in zuvor minuziös geplanten und alle Werkphasen dokumentierenden Fotoserien erhalten bleiben. Das zeigt sich exemplarisch in «Schwarzes Tuch» (1994), «Fahrrad mit Raketen» (1995) und «Kleine Ereignisse Hotel Castell, Zuoz», (1996).

Im Umfeld eines erweiterten Skulpturbegriffs bewegen sich auch Kunstschaffende wie Erwin Wurm (*1954), Christoph Rütimann (*1955), Matthew McCaslin (*1957), Karin Sander (*1957), Sylvie Fleury (*1961), Christoph Büchel (*1966), Koenraad Dedobbeleer (*1975) oder Nadim Vardag (*1980), die mit zum Teil umfangreichen Werkgruppen in der Sammlung vertreten sind.

Malerei der Gegenwart

Die zeitgenössische Malerei ist in der Sammlung mit bedeutenden Einzelwerken und umfangreichen Werkgruppen von Marcia Hafif (*1929), Imi Knoebel (*1940), Olivier Mosset (*1940), Gunter Umberg (*1942), Helmut Federle (*1944), Günther Förg (*1952) und Bernard Frize (*1955) präsent, während David Reed (*1946), John Armleder (*1948), Jessica Stockholder (*1959) und Fabian Marcaccio (*1963) das klassische Tafelbild zu anderen künstlerischen Gattungen und Medien hin öffnen.

Imi Knoebel zählt zusammen mit Blinky Palermo zu den wichtigsten Schülern von Joseph Beuys an der Düsseldorfer Akademie. Bereits während seiner Ausbildung setze er sich vom prägenden Vorbild ab und fand zu einer Malerei, in der die kategoriellen Bedingungen des Mediums stets neu befragt werden. Sein für die Entwicklung der Malerei so bedeutsames Schaffen kann in St.Gallen wie in keinem andern Schweizer Museum präsentiert werden dank einem umfangreichen Konvolut von «Linienbildern» (1966-1968), dem Hartfaserkreuz (1968/86) und einer farbintensiven Malerei auf Aluminium aus einer aktuelleren Werkphase: «Hello Darkness» (2001).

Als Performer, Maler und Installationskünstler zählt John Armleder zu den wichtigsten Impulsgebern für Generationen zeitgenössischer Kunstschaffender, die sich an der Schnittstelle zwischen Hoch- und Populärkultur bewegen. Sein Schaffen ist mit «Furniture Sculptures» in St.Gallen erstrangig vertreten und erhält durch ein Gemälde aus der «Pour Painting»-Serie einen eigentlichen Glanzpunkt. Darin rezykliert Armleder die Kunstgeschichte, insbesondere Morris Louis’ Schüttbilder, zudem lässt er durch die Verwendung leuchtender Signalfarben und funkelnden Glimmers Referenzen an die Alltagskultur, an die Party- und Discoszene, anklingen und verbindet das klassische Tafelbild mit dem Profanen der Lebenswelt. 

«Ich hatte immer den Ehrgeiz, Schlafzimmermaler zu sein», betont der in New York lebende Künstler David Reed. Sein Schaffen, das in den siebziger Jahren mit prozessorientierten Bildern einsetzt, zählt zum Faszinierendsten der zeitgenössischen Malerei. «Scottie’s Bedroom» (1994) gilt als Hauptwerk des Künstlers, in dem er ein eigenes Gemälde in ein Schlafzimmer-Ensemble integriert und mit einer Filmsequenz aus Alfred Hitchcocks berühmtem Streifen «Vertigo» konfrontiert. In diesen ist dasselbe Bild wiederum digital in eine Schlafzimmerszene eingesetzt worden. Mit der hintersinnigen Konzeption nimmt der Künstler Bezug auf das Massenmedium Film und hinterfragt in lustvoller Weise die Möglichkeiten der Malerei in einem erweiterten Feld zeitgenössischer Visualität.

Das gilt auch für das Schaffen von Fabian Marcaccio. In virtuoser Weise verbindet sich in seinen malerischen «Collagen» die Gesten des abstrakten Expressionismus mit verschiedenen technischen Reproduktionstechniken und der Bildwelt der Neuen Medien zu höchst komplexen malerischen Organismen, die er in Überblendung von Painting (Malerei) und Mutant (Verändertes) als «Paintant» bezeichnet und die Malerei damit in der Gegenwart zu verorten sucht.

Neue Medien

Neben der Fotografie, deren Entwicklung seit den siebziger Jahren mit Werkgruppen von Manon (*1946), Urs Lüthi (*1947), Hannah Villiger (1951-1997) oder Beat Streuli (*1957) in der Sammlung des Kunstmuseums St.Gallen dargestellt wird, galten die Erwerbungen der letzten Jahre auch dem neuen Bildmedium Video. Dessen zentrale Positionen sind von der Pioniergeneration - Nam June Paik (*1932), Silvie und Chérif Defraoui (*1935 / 1932-1994) - bis zur Gegenwart mit Arbeiten namhafter  Künstlerinnen und Künstler in der Sammlung vertreten, darunter Pipilotti Rist (*1962), Teresa Hubbard / Alexander Birchler (*1965/*1962) und Shahryar Nashat (*1975).

Der ausgebildete Musiker Nam June Paik, der in den sechziger Jahren in Deutschland im Umfeld der Fluxus-Bewegung und der Düsseldorfer Szene um Joseph Beuys hervorgetreten war, gilt allgemein als Grossvater der Videokunst. Dank einer grosszügigen Schenkung von Heinrich E. Schmid kann die St.Galler Sammlung als einziges Museum in der Schweiz eine bedeutende Installation von Paik permanent der Öffentlichkeit zugänglich machen: «Beuys-Voice – A Hole in the Hat», 1987 für die documenta 8 entstanden, ist eine künstlerische Hommage an seinen Weggefährten, den im Jahr zuvor verstorbenen Joseph Beuys. Gezeigt werden in staccatoartigen Schnitten kurze Bildfolgen aus einer gemeinsamen Performance, einzelne Insignien des Künstlers wie der brennende Hut, gegengeschnitten mit computergenerierten Sequenzen, wie sie nicht nur für die Entwicklung der Videokunst, sondern auch für die nachfolgende MTV- und Musikvideogeneration vorbildhaft werden sollten.

Zur jüngeren Generation von Videokünstlerinnen zählt die St.Gallerin Pipilotti Rist, deren Schaffen inzwischen weltweit gefeiert wird. Im Kunstmuseum St.Gallen hatte sie nicht nur ihre erste Museumsausstellung, die Sammlung beherbergt auch zahlreiche Werke der Künstlerin: frühe Einkanalvideoarbeiten sowie raumgreifende Installationen. Im Foyer des Museums permanent installiert ist der «T.V.-Lüster» (1993), ein Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Das einzigartige Videoobjekt besteht aus sechs Monitoren, auf denen die Augen der Künstlerin im Polkatakt kreisen. Im raffiniert angelegten Werk verbinden sich zwei Grundthemen der Videokunst – die Überwachungskamera und der Bildschirm als magische Lampe – und verströmen dabei in spielerischer Weise ein Glücksgefühl, das den Besucher auf dem Rundgang durchs Museum bestimmt nachhaltig begleiten wird.

2012 konnte dank Sondermitteln von Stadt und Kanton St.Gallen sowie der grosszügigen Unterstützung durch die Raiffeisen Jubiläumsstiftung und die Stiftung Ars Rhenia ein weiteres Schlüsselwerk im Oeuvre der Künstlerin erworben werden. «Administrating Eternity» (2011) bildete als spektakulär inszenierte Installation im Oberlichtsaal den Höhepunkt der retrospektiven Ausstellung Blutbetriebene Kameras und quellende Räume von Pipilotti Rist, die 2012  im Kunstmuseum St.Gallen stattfand. In diesem Meisterwerk finden zentrale Elemente ihres Videoschaffens zusammen: Die raumgreifende Inszenierung ist ebenso charakteristisch für ihre unverwechselbare künstlerische Sprache wie schwindelerregende Kamerafahrten und sich überschlagende Bilder, die mit technischen Verfremdungen und assoziativen Montagen in einen mitreissenden farbigen Bilderstrom münden. Raffiniert befragt die Künstlerin den vermeintlichen Wirklichkeitsgehalt des elektronischen Mediums und schafft sinnliche Bildräume, in die man als Besucher eintaucht, um einzigartige Glücksgefühle zu erleben. Inhaltlich erweitert Pipilotti Rist mit «Administrating Eternity» die unmittelbare Aussage früher Arbeiten durch das Moment des Traumhaften. Die Ewigkeit zu verwalten, wie es der Titel andeutet, scheint ein urmenschliches Verlangen. Die Künstlerin bezieht sich auf den prekären Zustand zwischen Wachen und Schlafen, der im begleitenden Sound anklingt.

Zur jüngsten Generation von Videokünstlern gehört die Südafrikanerin Candice Breitz (*1972), die in den vergangenen Jahren mit Ausstellungen international grosse Beachtung fand und nun mit zwei eindrücklichen Werken in der St.Galler Sammlung vertreten ist: «Becoming Julia», 2003, und «Me Myself I», 2001. Bei letzterem handelt es sich um den Titel eines populären Hits der amerikanischen Songwriterin Joan Armatrading aus den 1980er Jahre. Diesen übersetzt die Künstlerin in ein Video, das eine Art Road Movie mit einer beinahe privaten Innensicht verbindet, während «Becoming Julia» die von der Traumfabrik Hollywood permanent produzierten Rollenmodelle dekonstruiert und eindringlich die Frage nach der Konstruktion von Identität im heutigen Medienzeitalter stellt.

«Wild Seeds» lautet der Titel einer eindrücklichen Videoinstallation, welche die 1970 geborene Yael Bartana 2005 erstmals an der Biennale von Istanbul realisierte. Die israelische Künstlerin konfrontiert uns in ihrem Schaffen mit mediatisierten Erfahrungen der Wirklichkeit. Wiederholt hat sie sich mit der Militarisierung des israelischen Alltags bzw. dem Selbstverständnis des jüdischen Staates beschäftigt und dafür Bilder gefunden, denen eine zutiefst verstörende Qualität inne wohnt wie in den vermeintlichen Kinderspielen in «Wild Seeds».

Zeichnung

Neben dem Bereich der zeitgenössischen Skulpturen erhielt in den letzten Jahren auch die Zeichnungssammlung durch bedeutende Schenkungen und Ankäufe zeitgenössischer Kunst entscheidende Impulse. So fanden unter anderem bedeutende und umfassende Zeichnungsserien von Silvia Bächli (*1956), Nedko Solakov (*1957), Marcel van Eeden (*1965), Ante Timmermans (*1976) und Marc Bauer (*1975) den Weg in die Sammlung. Eine eindrückliche Installation mit Zeichnungen von Franz Ackermann (*1963) zählt zu den neuesten Erwerbungen (s. Schenkungen und Neuerwerbungen).

Ein Highlight der aktuellen Neuerwerbungen im Bereich der zeitgenössischen Zeichnung bildet das mehrteilige Ensemble « das (to Inger Christensen) »(2008-09), das Silvia Bächli für den Schweizer Pavillon an der 53. Biennale di Venezia entwickelt und für ihre Ausstellung far apart – close together im Oberlichtsaal des Kunstmuseums St.Gallen perfekt adaptiert hat.

Die in Basel lebende Silvia Bächli (*1956) gilt als eine der bedeutendsten Zeichnerinnen der Gegenwartskunst. Seit den späten 1970er Jahren hat sie ihr Schaffen behutsam und dennoch konsequent entwickelt. Die alltägliche Wahrnehmung bildet dabei stets den Ausgangspunkt für einen künstlerischen Prozess, in dessen Verlauf die Künstlerin den Dingen autonome zeichnerische Form verleiht. Der Werkkomplex « das (to Inger Christensen) » , den die Künstlerin der dänischen Lyrikerin Inger Christensen widmete, ist ein eigentliches Schlüsselwerk in ihrem OEuvre und konnte dank des grosszügigen Entgegenkommens der Künstlerin als gemeinsame Erwerbung des Bundesamtes für Kultur und des Kunstvereins St.Gallen für die St.Galler Sammlung gesichert werden. Zusammen mit einer grossartigen Schenkung neuer Papierarbeiten aus der Serie Rotes Zimmer, 2011–12 sowie der Dauerleihgabe von fünf Tischen, 1989 –2006, bildet das zeichnerische Schaffen von Silvia Bächli im Kunstmuseum St.Gallen neu einen einzigartigen künstlerischen Schwerpunkt.