Wie zeitgenössische figurative Malerei aussehen könnte, auf diese Frage hat Francisco Sierra gleich mehrfache Antworten. Die unerwarteten Verschiebungen in Form und Material der dargestellten Dinge machen sein Werk doppelbödig und irritierend zugleich und damit faszinierend zeitgenössisch, gerade weil es sich auf die grossen klassischen Traditionen der Malerei beruft. Die Objekte sind kaum je das, was sie vorzugeben scheinen.
Parallel zu einem Violinstudium brachte sich Francisco Sierra das Malen autodidaktisch bei. Der von der Firma Maus Frères SA 1982 initiierte MANOR-Kunstpreis, der inzwischen in 12 Schweizer Städten in Zusammenarbeit mit den Kunstmuseen vergeben wird, ist eine von zahlreichen Auszeichnungen, die der Künstler bislang entgegennehmen durfte. Neben dem Swiss Art Award und einem Atelierstipendium von Landis & Gyr erhielt Sierra auch mehrfach den Kiefer Halblitzel Preis für Bildende Kunst.
So wie Francisco Sierra die Fallgruben der zeitgenössischen fotografischen Abbildung und die transformierenden Möglichkeiten der Malerei interessieren, so elegant reflektiert er surrealistische und konzeptuelle Bildvorstellungen, die immer wieder auf die Alltäglichkeit der gesehenen Dinge zurückfallen. Der virtuose Umgang mit Material, Objekt und Suggestion vereint sich beim Betrachter zu einem eindrücklichen visuellen Erlebnis.
Mit seiner Werkreihe «Formology of Avalon» begibt er sich auf die Reise zum mythischen Ort Avalon der Artussage. Die insgesamt sieben grossformatigen Bilder(170 x 130 cm) der Serie, die alle abstrakte Reliefs zeigen, erinnern zunächst an eine formalistisch verstandene Moderne. Ausgangspunkt der Arbeiten sind comicartige Strichzeichnungen in Bleistift, die der Künstler rasch und in Serien zeichnet. Im Falle von «Formology of Avalon» sind abstrakte Formfindungen das Thema. Diese Zeichnungen bildet der Künstler im gleichen A4-Format in einem gipsartigen Material nach. Es entstehen weisse Reliefplatten mit dreidimensionalen gegenstandslosen Strukturen, deren Konturlinien den vorangehenden Zeichnungen entsprechen. Und hier nun setzt das schlüssig Visuelle seiner akribisch nach dem Erscheinungsbild gemalten Bilder ein. Changierende Weisstöne bestimmen die abstrakten kleinen Reliefs, doch die Farbe Weiss kommt auf den Gemälden nicht mehr vor. In unendlich differenzierten Annäherungen einer minutiös entwickelten Pinseltechnik, die mit fotografischem Blick Dinge wirklichkeitsgetreu abbildet, entfernt sich Sierra vollständig von den Vorlageobjekten, gerade weil er sie so realistisch abbildet. Die Objekte werden auf der grossformatigen Leinwand nochmals neu erfunden. Sie dienen nunmehr als Ausgangspunkt eines malerischen Prozesses, der die Wahrnehmung des Objektes mit Hilfe einer differenzierten Pinselsprache erfahrbar macht.
Die Schlüsselfrage der bildenden Kunst nach den Abbildungs- und Wahrnehmungsmechanismen steht im Zentrum dieser Recherche. Die faszinierende Überanschaulichkeit des Bildes lässt uns die eigene Betrachtungsweise wie durch ein Brennglas nochmals neu betrachten.
Zur Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen findet vom 28. September 2013 bis 2. Februar 2014 im Kunstmuseum Solothurn parallel eine Präsentation mit Zeichnungen von Francisco Sierra statt. Die sich ergänzenden Ausstellungen werden von einem gemeinsamen, reich illustrierten Katalog begleitet.